Über Sinn und Unsinn von Gewichtsempfehlungen 

Die Frage "Ist das Gewicht meiner Schildkröte ok?" ist eine der häufigsten Fragen in Diskussionsforen und in sozialen Netzwerken. Liegt das Gewicht über oder unter der aktuell gültigen Norm, kommt es zu wilden Spekulationen. Nicht selten bricht Panik aus. Zumindest wird der besorgte Fragesteller mit allerlei fachmännischen Tipps bedacht. Dabei spielt sonst die Frage nach dem Gewicht eher bei eher bei Nutztieren eine Rolle, und zwar bevor sie in den Kochtopf kommen.    Der Grund mag darin liegen, dass es weniger Anhaltspunkte für den Allgemeinzustand der Schildkröte gibt als bei anderen Haustieren. Schließlich ist ein Großteil der Schildkröte unsichtbar im Panzer verborgen. Die folgenden Überlegungen befassen sich mit der Frage, was das Gewicht über den Allgemeinzustand der Schildkröte aussagt (und was nicht).

Welche Rückschlüsse hoffen wir ziehen zu können?

Rückschlüsse auf ...

... den Ernährungszustand: Ist meine Schildkröte zu dick?
... die Gesundheit: Ist meine Schildkröte gesund?
... ein normgerechtes Gewicht: Ist meine Schildkröte normal?
... die Haltung: Stimmt meine Haltung?

Beispiele für unterschiedliche Gewichtsempfehlungen

Es gibt verschiede Gewichtsempfehlungen und Gewichtsrechner für adulte Schildkröten, die jeweils unterschiedliche Ergebnisse liefern. Diese Rechner für adulte Schildkröten legen das Stockmaß SCL zugrunde. Die Panzerform oder die Form der Marginalschilde wird hierbei nicht berücksichtigt, mit dem Resultat, dass manchmal abenteuerliche Ergebnisse zutage treten. Die Rechner für juvenile Schildkröten stellen Gewicht und Alter gegenüber.


Links zu den bekanntesten Gewichtsrechnern und -tabellen:

Hailey Konditionsindex: http://www.ahailey.f9.co.uk/cond.htm
Wachstumsberechnungen Testudolinks: http://www.testudolinks.de/ 
Wachstumstabellen Testudobayern http://www.testudobayern.de/
Überlegungen von Horst Köhler: http://schildi-online.eu/
Wachstumsempfehlungen "Evas Tierpardies" http://www.evastierparadies.de/
Wachstumsempfehlungen "Mediterrane Landschildkröten": http://www.mediterrane-landschildkroeten.de

 

Zur Veranschaulichung hier die Maße meiner adulten Testudo hermanni boettgeri
(Daten von 2010)

 

 Stockmaß
SCL

Länge über den Rückenpanzer gemessen

Umfang

Gewicht

Einschätzung Pursall

Einschätzung Hailey

Klops

 22,5cm

 26cm

43cm

1855 - 2012g

 fast tot

untergewichtig, 87% des Soll-Gewichts

Lola

 20,5cm

 25cm

40,5cm

1502 - 1671g

alarmierendes  Untergewicht

ok, 96% des Soll-Gewichts

Gisela

 23,5cm

 30cm

47cm

2433 - 2653g

 Untergewicht

gut, 103% des Soll-Gewichts

Amanda

 22cm

 24cm

44cm

1891 - 2085g

 Untergewicht

ideal, 100% des Soll-Gewichts

Anna

 18cm

 21cm

35cm

1039 - 1155g

Untergewicht

ok, 92% des Soll-Gewichts

Bimbo

 20cm

 24cm

41,5cm

1605 - 1781g

 Untergewicht

ok, 113% des Soll-Gewichts

Hermann

17,5cm

24cm

37cm

1260 - 1330g

Übergewicht

übergewichtig, 
121% des Soll-Gewichts

Nach dem Konditionsindex von Hailey hat ausgerechnet das stark deformierte Weibchen Amanda als einzige ein ideales Gewicht. Nach Pursall hätte das Weibchen "Klops", ein sehr flach gebautes Tier, fast tot sein müssen. Sie macht aber seit fast 40 Jahren absolut keine Anstalten, das zeitliche zu segnen. "Hermann" hat trotz angeblichem Übergewichts keine einzige Speckrolle, sondern einen sehr hoch gewölbten Panzer. 

Dies wirft die Frage auf, ob eine Messung über den Rückenpanzer nicht sinnvoller ist, wie Karin Schippan auf ihrer Seite vorschlägt: klick  Bei dieser Methode wird das Volumen der Schildkröte teilweise mit berücksichtigt. Allerdings wird man bald feststellen, dass Tiere mit gleicher Carapaxlänge häufig äußerst unterschiedliche Gewichte auf die Waage bringen - (siehe Bimbo, Hermann und Amanda mit jeweils einer Panzerlänge von 24cm). 

Bei einer Gegenüberstellung von Querumfang und Gewicht sind die Ergebnisse aussagekräftiger. Siehe dazu: Auf der Suche nach einer geeigneten Messmethode


Welche Rechner bzw. Gewichtstabellen sind für welchen Zweck sinnvoll und was sagt eine Abweichung vom Durchschnitt aus?

 a) Ist meine Schildkröte zu dick?

Anders als bei den meisten Tieren ist einer Schildkröte durch ihren Panzer eine natürliche Wachstumsgrenze gesetzt, lediglich entlang der Gliedmaßen kann die Schildkröte zusätzliche Körpermasse anlagern. Da Fett leichter ist als das übrige Körpergewebe (vgl. R.Willemsen, A. Hailey "Body Mass Condition in Greek Tortoises: Regional and interspecific Variation", 2002, S.110), sinkt bei verfetteten Tieren das Gewicht im Verhältnis zur Größe. Somit ist ein hohes Gewicht umgekehrt proportional zur Verfettung. Knochenmasse ist knapp 3x so schwer wie Körpergewebe und führt zu einem höheren Gewicht (ebd.). Ein flacher Panzer durch frühere Rachitis "Pfannkuchenwuchs" ist nicht wieder rückgängig zu machen und wirkt sich auch noch aus, wenn die Haltung längst stimmt, und zwar paradoxerweise "positiv". Im Extremfall kann ein verwachsenes Tier mit verdicktem Bauchpanzer, Pfannkuchenform und verfetteten Organen Idealgewicht haben. Ausgerechnet meine beiden Höckertiere Bimbo und Amanda sind die einzigen mit einem Konditionsindex von 0, also Idealgewicht

Zur Überprüfung des Ernährungszustandes oder der Frage: "Soll ich mehr oder weniger Futter anbieten?" sind Berechnungen, die Gewicht und Größe miteinander abgleichen, also eher untauglich. Im schlimmsten Fall sind sie sogar kontraproduktiv, wenn der SK aufgrund ihres nicht normgerechten Gewichtes eine Schlankheitskur verordnet oder sie mit Kraftfutter aufgepäppelt wird. Junge Schildkröten setzen Futter ohnehin hauptsächlich in Größenwachstum um, Speckrollen sucht man vergeblich. Die Frage muss lauten: Wächst meine Schildkröte langsam und gleichmäßig? Bildet sie gleichmäßige Wachstumsringe aus?

Weit verbreitet ist folgende Empfehlung: Gewichtszunahme um 50% schon in den ersten Lebenswochen bis zur ersten Winterstarre, danach jeweils 50% bis zum 6. Lebensjahr (z.B. HP "Mediterrane Landschildkröten")  Andere Experten empfehlen eine regelmäßige Gewichtszunahme um 50% bis zur jeweils nächsten Winterstarre (z.B. www.nabeulensis.de)

Viele Halter bestätigen: Auch wenn SK das ganze Jahr über im Freiland gehalten werden, nur Wildpflanzen bekommen und eine Winterstarre halten dürfen, wachsen sie im Durchschnitt schneller als empfohlen. (Hier müsste also nachgebessert werden - fragt sich nur ob an den Empfehlungen oder an unserer Haltung.

Bei Schlüpflingen sind die Unterschiede der Gewichtszunahme - abhängig vom Schlupfzeitpunkt - besonders hoch vgl. Gewicht (Tabelle 1 und 2) Mitunter erfolgt der erste deutliche Wachstumsschub erst nach der ersten Winterstarre. Da sich Schlüpflinge in ihren ersten Lebenswochen (-monaten?) noch von den Vorräten ihres eingezogenen Dottersack ernähren, braucht man sich keine Sorgen zu machen, dass sie in der Zeit verhungern.

Anorexie kommt bei in Gefangenschaft gehaltenen Landschildkröten gelegentlich vor und kann durch Futtermangel, hohe Konkurrenz um das Futter, durch Krankheiten oder Parasiten bedingt sein. Fettleibigkeit kommt dagegen bei im Freiland gehaltenen europäischen Landschildkröten äußerst selten vor. Terrarientiere mit Bewegungsmangel in Kombination mit zu gehaltvoller Fütterung können dagegen durchaus verfetten. Zunächst sind die inneren Organe, insbesondere die Leber betroffen, erst dann wird Fett in die Unterhaut der sichtbaren Körperbereiche außerhalb des Panzers eingelagert. (vgl. Dr.L.Sassenburg "Handbuch Schildkrötenkrankheiten", S.51f)

Ein optischer Check hilft bei der Frage nach dem momentanen und langfristigen Ernährungszustand am ehesten weiter: Abgemagerte SK beschreibt Sassenburg so: dünne Extremitäten, tief liegende Augen, blasse Zunge und Schleimhäute. In schweren Fällen kann es zu Hungerödemen kommen. (ebd. S.50)

 

b) Ist meine Schildkröte gesund?

Findet bei Jungtieren in der Wachstumsphase über Wochen kein Wachstum und keine Gewichtszunahme statt, kann dies auf Krankheiten, Fehlbildungen der Fress- oder Verdauungsorgane oder Parasitenbefall hindeuten. Viele Krankheiten gehen mit Appetitlosigkeit einher. Allerdings machen sich nicht alle Krankheiten durch Magerkeit bemerkbar, im Gegenteil. Ein hohes Gewicht bei adulten Tieren kann auch auf im Körper verbliebene Eier, Harnverhaltung (Hailey ebd. S. 105) oder Wassereinlagerungen durch Nieren- oder Leberschaden oder Steine im Verdauungstrakt hinweisen.

Eine hohes Gewicht in Relation zum Alter kann ein Hinweis darauf sein, dass die Schildkröte keine Winterstarre gehalten hat. Ob eine ausgefallene Winterstarre für sich genommen automatisch zu gesundheitlichen Problemen führt, kann ich nicht beurteilen. Fast immer jedoch lässt das auf mangelnde Kenntnis des Halters schließen, und die betreffende Schildkröte ist gleichzeitig anderen Haltungsfehlern ausgesetzt, die unausweichlich zu Schäden führen, wie z.B. Temperaturmanagement, Futterzusammensetzung, Feuchtigkeit, etc. Bei der Frage nach dem Gesundheitszustand ist ein Vergleich mit eigenen früher ermittelten Daten sinnvoller als der Abgleich mit Tabellen - und natürlich der Gang zum schildkrötenkundigen (!) Tierarzt, wenn die Appetitlosigkeit andauert oder ein Verdacht auf eine Krankheit vorliegt.

In Ratgebern und in Foren wird gern betont, wie wichtig das Wiegen während der Winterstarre sei. Nimmt die Schildkröte um einen gewissen Prozentsatz ab (je nach Ratgeber 5% oder 10%), sei das Tier auszuwintern, da eine lebensbedrohliche Krankheit vorläge. Bisher konnte mir jedoch niemand erklären, welche Krankheit zu Verlust von Körpermasse oder Flüssigkeit führt.  

 

c) Ist meine Schildkröte normal? 

Da es mitunter schwer einzuschätzen ist, ob es der Schildkröte gut geht, hat es etwas Beruhigendes, wenn Gewicht und Wachstum der eigenen Schildkröte im Vergleich mit anderen in Gefangenschaft gehaltenen Artgenossen innerhalb der aktuell gültigen Norm liegt.

Voraussetzung für einen Abgleich von Gewicht und Größe ist eine vergleichbare Messmethode. Der Begriff "Panzerlänge" wird unterschiedlich verwendet. Einmal als "Stockmaß" mit dem Tortometer oder der Schieblehre gemessen, anderereits als Panzerlänge über die Wölbung des Carapax gemessen. Viele private Halter haben Wachstumskurven auf ihren Internetseiten veröffentlicht, die auf die Frage nach einem "normgerechten" Gewicht im Vergleich zu anderen in Gefangenschaft gehaltenen Schildkröten Auskunft geben. Möglich ist bei Schlüpflingen und Jungtieren eine Gegenüberstellung von Alter und Gewicht (Tab.1 bis 3) bzw. bei adulten Tieren Größe -und Gewicht.  Empfehlungen, die sich an Schildkröten im Habitat orientieren, werden selten passen, und wenn ja, ist das nicht immer ein gutes Zeichen.

Je mehr Schildkröten man unter vergleichbaren Bedingungen hält, desto größer ist die Bandbreite der Messergebnisse, so dass man auch bei größeren Abweichungen gelassen bleiben sollte.

 

d) Ist meine Haltung naturnah?

Da viele in Gefangenschaft gehaltene Schildkröten zu schnell wachsen und unter haltungsbedingten Schäden leiden, ist ein Vergleich mit Tieren in freier Wildbahn interessant, wobei man sich darüber im Klaren sein muss, dass zu naturidentischen Haltungsbedingungen auch Hungerphasen, Durststrecken, Stress, Parasiten, und häufigere Verletzungen gehören.

R.E.Willemsen und A.Hailey untersuchte in den 80-er Jahren mehrere tausend Schildkröten auf dem griechischen Festland. In der Untersuchung stellten sie geringfügige Schwankungen des Gewichts im Jahresrhythmus (Hailey S.107f,112) bedingt durch Wasserhaushalt und Futterverfügbarkeit fest, außerdem einen unterschiedlichen Gewichtsverlauf von männlichen und weiblichen Tieren innerhalb der Aktivitätsphase von April bis Oktober. Im Habitat erreichen Männchen ihr höchstes Gewicht im Juli, Weibchen halten annähernd das gleiche Gewicht von Mai bis August. (Hailey Fig.2) Regenzeit und ein hoher Konditionsindex gehen einher (ebd. S.110, Fig.6). Die Frage ist, ob in Gefangenschaft gehaltene Schildkröten in Nordeuropa ähnlichen Schwankungen ausgesetzt sind. Im Vergleich zu Griechenland ist es hier ständig feucht, Futter ist ständig verfügbar, daher müsste das Gewicht eigentlich permanent hoch sein, wenn man von Phasen der Appetitlosigkeit kurz vor und nach der Winterstarre einmal absieht. Sarina Wunderlich weist allerdings in ihrem Gewichtsrechner darauf hin, dass bei in Gefangenschaft gehaltenen SK ein Konditionsindex von -0,05 bis -1 als normal angesehen werden sollte. Sie sind also durchschnittlich etwas leichter als wild lebende Exemplare. Schlägt sich die naturferne Ernährung und Lebensweise in poröseren Knochen und höherem Fettanteil nieder? Lässt diese Feststellung den Rückschluss zu: je mehr die Haltung von den natürlichen Bedingungen abweicht desto geringer der Konditionsindex, also das Gewicht im Verhältnis zur Panzerlänge? Wenn ich das Gewicht meiner eigenen adulten Thb über die letzten Jahre, in denen ich die Haltung stetig verbessert habe, verfolge, könnte der Eindruck stimmen. Sie nähern sich allmählich ein Konditionsindex von 0 an. Allerdings haben ältere Landschildkröten generell mehr Masse als Jungtiere. Sie wachsen zwar nicht mehr in die Länge, wohl aber in die Höhe und in die Breite.

Weibchen sind generell schwerer als Männchen. In den Rechnern von Hailey und Wunderlich wird dies berücksichtigt und das Geschlecht kann als Parameter eingegeben werden. Beschalte Eier im Körper des Weibchens machen 10-15% zusätzliches Körpergewicht aus. (Hailey S.106) Da die Eier Nahrung und Darminhalt verdrängen und deren Platz im Leib des Weibchens einnehmen, ist dieser Gewichtsunterschied aber nur direkt nach der Eiablage feststellbar. (ebd. S.112) Die Abgabe von Kot oder Urin während des Wiege- und Messvorgangs kann das Ergebnis signifikant beeinflussen. Es ist also vorsichtig zu hantieren, um zu vermeiden, dass die Schildkröte sich vor Schreck entlehrt. Die für das Tier unangenehmste Aktion sollte zum Schluss erfolgen.

Wenn die Faktoren Geschlecht, Jahreszeit, evtl. Trächtigkeit berücksichtigt werden, die SK nicht gerade Kot oder Urin abgegeben hat und der der Konditionsindex trotzdem außerhalb der Norm liegt, können also sowohl haltungsbedingte als auch nicht haltungsbedingte Gründe vorliegen.

Für Gewichtsvergleiche mit Schildkröten im Habitat eignet sich der Calculator von Adrian Hailey in dem ein Konditionsindex errechnet wird und der Rechner von Sarina Wunderlich, bei dem man zusätzlich Rückschlüsse auf das Herkunftsgebiet und eine mögliche Endgröße ziehen kann. Am wenigsten differenziert ist der Rechner von Pursall, der von einem höheren Norm-Gewichten ausgeht und den Benutzer schnell in Alarmstimmung versetzt. Es entsteht der Eindruck, die Schildkröten stünden kurz vor dem Hungertod. In allen genannten Rechnern wird eine Art BMI ermittelt, d.h. es werden Panzerlänge und Gewicht ins Verhältnis gesetzt.

 

Ein niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße (Konditionsindex von unter - 0,1) kann demnach eventuell bedeuten: 

- dehydriert
- wenig gefressen
- flacher Panzer
- fett
- poröse Knochen
- in der Vorbereitungsphase  auf die Winterstarre
- kürzlich Kot oder Urin abgegeben


Ein hohes Gewicht im Verhältis zur Körpergröße (Konditionsindex von über +0,05) kann demnach eventuell bedeuten:

gerade getrunken oder gebadet
- viel gefressen
- besonders hoch gewölbt
- höckeriger Panzer (???)
- Steine im Verdauungstrakt
- sehr altes Tier
- Messfehler (vielleicht nur das reine Plastronmaß genommen?)


Zu diesem Thema ist von mir ein Artikel im Fachmagazin "Schildkröten im Fokus" 3/2016 erschienen.

 

 

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