Verzögerte Rückzugsphase vor der Winterstarre 

bei ehemals nicht überwinterten Europäischen Landschildkröten


Gunda Meyer de Rojas

Januar 2022


Wie jedes Jahr konnte man auch vergangenen Herbst wieder in den Schildkröten-Ratgebergruppen der sozialen Netzwerke lesen, dass sich Schildkröten, denen eine Überwinterung in der Vergangenheit vorenthalten wurde, auffällig verhalten. Berichten zufolge ziehen sie sich später zurück als Artgenossen, denen von Anfang an eine Überwinterung gewährt wurde. Sie bleiben länger an der Oberfläche und graben sich erst sehr spät oder überhaupt nicht ein. Einige laufen noch bei relativ kühlen Temperaturen umher und nehmen sogar noch Nahrung auf.

Der Frage ist, ob es sich hier um zufällige Beobachtungen handelt oder ob man das Verhalten verallgemeinern kann. Um das Phänomen genauer zu untersuchen, habe ich eine Fragebogenaktion gestartet und die Ergebnisse ausgewertet.


6-jährige T. hermanni boettgeri bisher ohne Winterstarre (Foto Julia Caroline Schwarz)


Reguläres Verhalten in der Vorbereitungsphase

Die Vorbereitung auf die Überwinterung macht sich durch folgende Verhaltensweisen bemerkbar: Die Schildkröte stellt im Herbst bei kühleren Temperaturen und abnehmenden Lichtverhältnissen das Fressen ein. Sie sucht bevorzugt ein dunkles Versteck auf und verlässt es kaum noch. Sie verkriecht sich unter Pflanzenmaterial und/oder vergräbt sich im Boden. Das Verhalten erfolgt nicht kontinuierlich. Es kann vorkommen, dass Tiere, die bereits einige Tage vergraben waren, noch einmal zum Vorschein kommen, sich sonnen, ein wenig Nahrung aufnehmen oder den Platz wechseln.

Der Beginn der Vorbereitungsphase ist von der Art bzw. Unterart abhängig: Viele T.horsfieldii vergraben sich bereits im September. Es folgen T.hermanni hercegovinensis, danach T.hermanni boettgeri und T.graeca ibera, noch etwas später T.hermanni hermanni. Am längsten bleibt T.marginata aktiv. (Quellen 3, 4, 5 und persönliche Mitteilungen)


Ausgangsmaterial und Durchführung

Die Studie beschränkt sich auf Europäische Landschildkröten inclusive T.horsfieldii.

Die befragten Halter*Innen halten sowohl Schildkröten, die von Anfang an überwintert wurden als auch Schildkröten, denen die Überwinterung in der Vergangenheit vorenthalten wurde. Auf diese Weise kann das Verhalten unter identischen Bedingungen verglichen werden.

Im ersten Teil des Fragebogens gaben die Halter*Innen Informationen über Anzahl, Art/Unterart, Alter, Geschlecht, (Vor-)Erkrankungen und zum äußerem Erscheinungsbild beider Vergleichstiere oder -Gruppen. Sie gaben den Zeitraum an, in dem die betreffenden Tiere nicht überwintert wurden und wo sie stattdessen den Winter verbracht hatten. 

Der zweite Teil des Fragebogens bezog sich auf das Verhalten. Die Teilnehmer kreuzten an, welche Tiere/ Vergleichsgruppen sich früher zurückziehen, sich spät oder gar nicht vergraben und welche Tiere bei kalten Temperaturen noch aktiv sind und fressen. Im 3.Teil beantworteten die Halter*Innen, ob die Tiere ihr Verhalten im Laufe der Jahre geändert haben und wenn ja – in welcher Weise.

Es war schwieriger als gedacht, Halter*Innen mit überwinterten und nicht überwinterten Schildkröten zu finden, die zudem konkrete Angaben zum Alter, zum Zeitraum der Überwinterung/ Nicht-Überwinterung und zum Verhalten machen konnten. Von 30 angeforderten Fragebögen kamen 22 ausgefüllt zurück. Darunter waren 7 Fragebögen von Halter*Innen, deren Schildkrötengruppen nicht vergleichbar waren oder die entweder ausschließlich überwinterte oder ausschließlich nicht überwinterte Schildkröten hielten. Diese habe ich nicht in die Auswertung einbezogen. Einzelne Tiere, bei denen bei genauerer Nachfrage unklar war, ob sie in der Vergangenheit überwintert wurden oder nicht, wurden ebenfalls aus der Zählung herausgenommen.

So konnten am Ende 15 Fragebögen ausgewertet werden. Die 7 nicht in die Auswertung einbezogenen Fragebögen lieferten jedoch trotzdem Erkenntnisse im Hinblick auf unterschiedliche Rückzugsverhalten der einzelnen Arten.


Die 15 Befragten halten ca. 130 regelmäßig überwinterte Schildkröten und 47, die in einer früheren Lebensphase keine Winterstarre gehalten haben. Dabei handelt es sich um 29 T.hermanni boettgeri, 6 T.marginata, 5 T.graeca ibera, 4 T.horsfieldii und 3 T.hermanni hermanni. 

Die meisten von ihnen verbrachten früher den Winter im Terrarium, einige auch in einem geheizten oder ungeheizten Wohnraum in einer Zimmerecke oder in einem Karton.



Ergebnisse


Rückzugsverhalten

12 der 15 Befragten bestätigten: Diejenigen Schildkröten, denen eine Überwinterung in einer bestimmten Phase ihres Lebens vorenthalten wurde, sind im Herbst länger aktiv als Tiere, die von Anfang an überwintert wurden. Meist betraf es die gesamte Gruppe, manchmal auch nur einzelne Exemplare. 31 der 47 Tiere ziehen sich später zurück als es für die (Unter-)art typisch ist - also rund zwei Drittel. Sie vergraben sich entweder spät oder überhaupt nicht. 19 von ihnen nehmen bei Temperaturen unter 10°C noch Nahrung auf. In 2 Fällen tauchten T.horsfieldii sogar später ab als T.hermanni boettgeri in dem selben Bestand.

Auch die Schildkröten der 5 Halter*Innen ohne Vergleichsgruppe, deren Fragebögen nicht in die Auswertung einbezogen wurden, kamen deutlich später zur Ruhe als es für die Art üblich ist.

Oft kommen vormals nicht überwinterte Schildkröten im Frühjahr als erste wieder zum Vorschein. Ihre Überwinterungszeit ist also insgesamt kürzer.

4 Halterinnen mit insgesamt 16 Schildkröten beobachteten keinen Unterschied zu den regelmäßig überwinterten Artgenossen. Eine von ihnen berichtete, dass sich ihre 11 T.hermanni boettgeri und T.marginata alle trotz ausgefallener Überwinterungen normal verhielten. 


Tab.1

31 von 47 vormals nicht überwinterten Schildkröten (ca 66%) ziehen sich später zurück als ihre regelmäßig überwinterten Artgenossen


Gesundheit

In der Vergangenheit wurden bei ca. der Hälfte der nicht überwinterten Tiere schwere gesundheitliche Probleme, wie Lungentzündung, Nierenschwäche oder Rachitis diagnostiziert. Zum Zeitpunkt der Befragung waren alle Krankheiten ausgeheilt. Zumindest wirkten die Schildkröten auf die Befragten gesund.

Bis auf vier Ausnahmen hatten alle nicht überwinterten Schildkröten deutliche Höcker oder erhebliche Deformationen, z.B. eine sogenannte Pfannkuchenform.

Zwischen überstandenen Krankheiten und verzögertem Rückzugsverhalten habe ich keine Korrelation festgestellt.


60-jährige T.hermanni boettgerizwischenzeitlich 20 Jahre ohne Winterstarre


Alter

Bei 24 von 47 Schildkröten wurden die Lebensjahre, in denen sie überwintert bzw. nicht überwintert wurden, exakt angegeben. Die betreffenden Schildkröten waren 4 bis über 70 Jahre alt (siehe Tab.2) Die Jahre, in denen sie überwintert wurden, sind blau dargestellt, die Jahre ohne Überwinterung orange.  

Bei den übrigen 23 gemeldeten Tieren wurden das Alter oder die Jahre ohne Überwinterung geschätzt. Sie wurden nicht in die Grafik aufgenommen.

18 von 24 Tieren gingen verzögert in die Winterstarre (Säule 1 – 18) und 6 Tiere zogen sich gleichzeitig mit ihren regelmäßig überwinterten Artgenossen zurück (Säule 19 - 24). Legt man diese Grafik zugrunde, spielt die Länge des Zeitraums, in dem den Schildkröten die Überwinterung vorenthalten wurde, für das Vorbereitungsverhalten keine Rolle. Wie man bei den ältesten Tieren sieht (Säule 1 und 2) wirkt sich die frühere Überwinterungspraxis immer noch auf das Verhalten aus, obwohl sie längst regelmäßig ihre Winterstarre halten. 


Tab.2


Änderung des Verhaltens

Mehrere Teilnehmer konnten die Frage nach einer Verhaltensänderung nicht mit Sicherheit beantworten, z.B. weil der Beobachtungszeitraum zu kurz war, um eine Verhaltensänderung festzustellen.

Sechs mal wurde auch nach Jahrzehnten keine Änderung des Verhaltens beobachtet. Die Tiere treten ihre Winterstarre nach wie vor verzögert an. Lediglich 2 Halterinnen berichteten von einer Verhaltensänderung: Ein Horsfieldii-Wildfang, der zuvor 39 Jahre nicht überwintert wurde, blieb in den beiden ersten Jahren nach der Umstellung auf artgerechte Haltung auffällig lange wach. Jedoch bereits nach 2 Jahren passte sich sein Verhalten den regelmäßig überwinterten Artgenossen an. Eine Halterin berichtete, das Verhalten ihrer 11 Jahre nicht überwinterten Thb und Tgi sich allmählich änderte und nach nach 6 Jahren sei kaum noch ein Unterschied festzustellen.



Auswertung, Rückschlüsse und weiterführende Fragen


Tendenziell bleiben vormals nicht überwinterte Schildkröten länger wach als ihre regelmäßig überwinternden Artgenossen. Die These bestätigte sich jedoch weniger deutlich als erwartet. Entgegen meinen Erwartungen spielte es für das Verhalten keine Rolle, in welchem Lebensabschnitt oder wie lange die Tiere nicht überwintert wurden.


Was besagt das Ergebnis?

Die Untersuchung macht deutlich, dass der Instinkt, sich im Herbst zu vergraben nicht allein durch Temperatur und Licht gesteuert ist. Die frühere Überwinterungspraxis kann sich auf das Verhalten in der Vorbereitungsphase auswirken. Halter, die solche Tiere aufnehmen, müssen damit rechnen, dass sich die Vorbereitungsphase hinauszögert.

Wenn eine Schildkröte nicht abtauchen will, lohnt es sich auf jeden Fall, nach der früheren Überwinterungspraxis zu fragen.


Gibt es eine Prägephase, in der sie das Überwintern lernen?

Man könnte meinen, dass Wildfänge, die als Jungtiere im natürlichen Lebensraum überwinterten, ihre Gewohnheiten bis ins hohe Alter beibehalten oder sich zumindest schneller wieder umgewöhnen. Die vorliegende Studie bestätigt das nicht. Bei 6 Tieren handelt es sich um alte Wildfänge von 50 bis 70 Jahren, die vor der Entnahme aus ihrem Lebensraum sicherlich eine Winterstarre gehalten haben. Lediglich bei einem Horsfieldii-Wildfang, der 39 Jahre in Gefangenschaft nicht überwintert wurde, hat sich das Verhalten nach 2 Jahren normalisiert. Die anderen wurden jahrzehntelang nicht überwintert und zeigten noch nach weiteren Jahrzehnten immer noch das verzögerte Vorbereitungsverhalten.

Mehrere T.hermanni boettgeri dieser Untersuchung haben in ihre ersten Winter im Terrarium verbracht. So liegt der Gedanke nahe, sie hätten das Überwintern nicht gelernt oder – falls es so etwas bei Schildkröten gibt – die entsprechende Prägephase verpasst. Die Ergebnisse dieser Studie deuten allerdings nicht darauf hin. Es waren nämlich auch 6  T.hermanni boettgeri dabei, die ihre ersten Lebensjahre ganzjährig im Terrarium wach gehalten wurden und sich dennoch in den Folgejahren normal verhielten.

Die Überwinterungsbedingungen in der frühesten Jugend spielen also im Hinblick auf das Vorbereitungsverhalten keine große Rolle.


Verlernen sie das Überwintern? Verkümmern die Instinkte?

Sämtliche Schildkröten dieser Studie kamen früher oder später zur Ruhe. Es spielte für das Verhalten keine Rolle, in welchem Lebensabschnitt oder wie lange die Tiere nicht überwintert wurden – zumindest konnte ich keinen Zusammenhang entdecken. Man beachte, dass die  Schildkröten Tab.2 Säule 19 – 22 (alles flach gewachsene, höckerige Thb) mehr als ihr halbes Leben keine Winterstarre gehalten haben und trotzdem ein normales Rückzugsverhalten zeigten.  Um das Verhalten einordnen zu können, fehlen weitere Informationen über die Lebensumstände der betreffenden Tiere. Es deutet alles darauf hin, dass der von der Natur vorgegebene Rhythmus sich etwas verschiebt, aber nicht verkümmert.


Die Macht der Gewohnheit

Bekanntlich sind Schildkröten Gewohnheitstiere. Wir wissen, dass sie noch Jahre später Futterplätze oder Ausbruchsstellen an der Gehegeumrandung wieder erkennen. Schildkröten, die lange engen menschlichen Kontakt hatten, sind zeitlebens auf Menschen fixiert. Spielt Gewohnheit auch beim herbstlichen Rückzug eine Rolle? Suchen oder vermissen sie ihren früheren Überwinterungsort oder die entsprechenden Gegebenheiten? Diese Frage kann die vorliegende Studie nicht beantworten, aber es wäre ein Erklärungsansatz.


Wechselwirkung zwischen Überwinterung und Gesundheit

Zwar waren die Krankheiten bei allen Kandidaten zum Zeitpunkt der Befragung ausgeheilt, aber es ist nicht auszuschließen, dass immer noch unbemerkte Beeinträchtigungen vorliegen, die der Schildkröte während der Vorbereitungsphase zu schaffen machen und zu Unruhe und somit zu verzögertem Rückzugsverhalten und früheren Aufwachen führen.

Der Gesundheitszustand hat bekanntlich Einfluss auf das Verhalten. Die Hälfte der vormals nicht überwinterten Schildkröten hatte irgendwann im Leben eine Krankheit. Fast alle waren deformiert.

Zwar führt das Auslassen der Winterstarre nicht automatisch zu Krankheiten und Deformationen, denn in der Regel ist dies nur ein Faktor aus einer Kette von Haltungsfehlern, denen die betreffenden Tiere bei unwissenden Haltern ausgesetzt sind, aber ein Zusammenhang ist unübersehbar.

Schildkröten, denen im Terrarium der Sommer vorgegaukelt wird, nehmen in dieser Zeit Nahrung auf und wachsen entsprechend. Fehlt das nötige UV-Licht in Form von natürlicher Sonne oder einer hochwertigen UVB-Beleuchtung, kann kein Vitamin D3 gebildet werden, was zu mangelhafter Einlagerung von Kalzium und damit zu Schäden des Knochenpanzers und der Gliedmaßen führt – es sei denn es gibt eine Vitamin-D-Supplementierung oder entsprechendes Futter (Innereien, Eigelb), welches aber wiederum nach heutigem Kenntnisstand die Organe belastet. Je stärker das Wachstum desto massiver die Schäden. Wird zudem noch protein- und zuckerreiche Kost verfüttert, sind Leber- und Nierenschäden und Verdauungsprobleme vorprogrammiert. Zu trockene Haltung während des Wachstums und Austrocknen unter Heizlampen ist nach derzeitigem Kenntnisstand eine Hauptursache für Höckerbildung (Quelle 1, 2)

Der Verzicht auf die Winterstarre ist also für Jungtiere noch schädlicher als für adulte Tiere. Daher ist der weit verbreitete Rat, Schlüpflinge im ersten Lebensjahr nicht zu überwintern, kontraproduktiv.


Fazit

Die wahrscheinlichsten Gründe für das verzögerte Vorbereitungsverhalten sind somit Gewohnheit und/oder latent vorhandene Gesundheitsprobleme. Für konkretere Ergebnisse wäre eine größere Zahl von Befragten notwendig.

Ich hoffe, dass ich durch diese Studie Anregungen zum Weiterdenken und Beobachten liefern konnte.

Ich danke allen Teilnehmern der Studie für ihre Beobachtungen und das Ausfüllen der Fragebögen.


Quellen:

1) Bidmon, H.-J. (2017): Kommentar zu Heinrich, M.L.& K.K.(2016) Effect of supplemental heat in captive African Leopard Tortoises in Schildkröten im Fokus, Bergheim, 1/2017 S. 34–36.

2) Bidmon, H.-J.& Jennemann, G. (2006): Hohe relative Luftfeuchtigkeit – gleich glatte Panzer: Wie lässt sich das in der Landschildkrötenhaltung praktikabel realisieren? - Schildkröten im Fokus 3/2006 S.3-18

3) Fass, U. (2013): Die Haltung der Steppenschildkröten Agrionemys horsfieldii. – Biebertal (Kleintierverlag), 183 S.

4) Fritz, U. (Hrsg., 2001): Handbuch der Reptilien und Amphibien Europas Band 3/IIIA Schildkröten (Testudines) I. – Wiebelsheim (Aula Verlag), 595 S.

5) Ivanchev, I. E. (2007): Überwinterung von Testudo hermanni und Testudo graeca in der Natur und unter sehr naturnahen Bedingungen in Bulgarien. – Schildkröten im  Fokus, Bergheim, 2/2007 S.: 3–21.

6) Mascort, R. (2010): Die Schildkröten von Bosnien und Herzegowina: Ein Überblick. –  Radiata 1/2010: 35–52.

7) Mascort, (2015): Bemerkungen zu Taxonomie, Verbreitung, Status,.... von Testudo graeca ibera in Südosteuropa - Radiata, Lingenfeld, 3/2015 34 S.

8) Meyer de Rojas, G. (2017): Die Überwinterung von Europäischen Landschildkröten – Frankfurt a.M. (Chimaira Verlag) 90S.




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